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Anish Kapoor

Schau, flüster
und staun

Als wäre da wirklich Licht am Ende des Tunnels. Das ist der erste Gedanke, wenn man vom Abdijplein in den Kloostergang reingeht. Es glitzert am Ende des Gangs. Wenn man näher tritt, sieht man einen runden in alle Richtungen reflektierenden Spiegel. Drei Meter Durchmesser, bestehend aus hunderten, vielleicht tausenden dreieckigen Spiegelfragmenten, die in stets wechselnden Perspektiven auf einem Kunststoffuntergrund befestigt sind. ‚Random Triangle Mirror‘ heißt das Kunstwerk. Wer seine Werke kennt, sieht sofort die Handschrift von Anish Kapoor.

Die gemauerten Gewölbe, die gotischen Buntglasfenster, die verwitterten Fliesen auf dem Boden. Der Klostergang selbst hat schon was Heiliges. Niemanden würde es verwundern wenn man dort einem Mönch begegnen würde. Mit dem Spiegel von Anish Kapoor wird für den sich nähernden Betrachter die Heiligkeit unendlich oft reflektiert. Und Kapoor wäre nicht Kapoor, wenn er seine Betrachter nicht am Kragen packen würde. Wer auf ca. 1 m Abstand zu dem Spiegel steht, entwirrt sich plötzlich selbst. Erst ein vorsichtiges, an eine realistische Reflektion gelehntes Bild. Noch einen Schritt näher und man bekommt sich selbst zurück in unendlich vielen Selbstporträts. ‚Der ultimative Selfimoment‘, prognostiziert CBK-Direktor und Façade-Kurator Kathrin Ginsberg.

Es bleibt nicht bei dem Bild alleine. Sagen Sie mal etwas zu sich selbst oder zu einem Mitbesucher. Wer im richtigen Abstand zueinander steht – eben ausprobieren – hört, wie der Sprachklang in den Spiegel aufgenommen wird und verstärkt wieder herauskommt. Flüstern reicht schon, um eine Ansprache zu halten.

Mit dem Österreicher Erwin Wurm formt Anish Kapoor dieses Jahr das international renommierte und gefeierte Geschwader von Façade. Den Spiegel, der jetzt im Kloostergang leuchtet , hat er nicht speziell für Middelburg gemacht. Verzerrte, überraschende, konfrontierende Wirklichkeit: Das Werk schließt doch nahtlos an das Thema ‚Freiheit von Angst‘ an. In dieser historischen, vergeistigten  Umgebung, wo Dimensionen an Gehör und Sicht zugefügt werden, kann man sich selbst eben aus der Welt beamen, frei von Bedrohung und Leid.

Wer eintauchen will in das Werk von Kapoor muss diesen Sommer nach Venedig reisen. In der Gallerie dell’Academia – Das Rijksmuseum der Stadt – und in dem von ihm gekauften Palazzo Manfrin bietet er einen eindrucksvollen Überblick umfassend ungefähr 60 Werken. Sein Schwarz ist so schwarz, dass seine schwarzen Löcher Sie vollkommen ins Schwarze ziehen. Ein überdimensionaler schwangerer Bauch erhebt sich aus einer Wand des Ausstellungssaals, ohne dass man sehen kann, wo der Bauch beginnt und wo er endet. Und dann gibt es noch das Schlachthaus. Große Brocken Silikon und Farbe gleichend Fleisch oder Gedärme an eine Wand geklatscht, in einer Malerei gefangen, auf dem Boden verteilt oder über einem Balken drapiert. Eine blutrote Sonne, der von einem Transportband gefüttert wird, wo eben auch solche blutigen Stücke Fleisch verfüttert werden.
Willkommen in der Welt von Anish Kapoor. Auch in der Stadt am Canal Grande zeigt er eine Anzahl seiner bezaubernden Spiegel. Stellen Sie sich vor, Ihr eigenes Spiegelbild mit einem Hintergrund, der auf unerklärliche Weise um 180 Grad gedreht ist. Sie stehen dann nicht verkehrt herum, aber die Welt steht auf dem Kopf.

Wer nicht vorhat, dieses Jahr nach Italien zu fahren, kann somit einen Teil der Kunst des Meisters in Middelburg bewundern. Ein Spiegel in tausenden von dreieckigen Scherben. Das Werk darf als das Flaggenschiff von Façade 2022 betrachtet werden. Schauen Sie rein und bewundern Sie und flüstern.

 

Anish Kapoor (Mumbai, Indien, 1954) machte eine Kunstausbildung in London. Seitdem wohnt und arbeitet er dort. Er machte sich weltweit einen Namen als er 1990 Großbritannien auf der Biënnale von Venedig repräsentierte und wurde ausgezeichnet mit dem Primio Duemila für den ‚best young artist‘. In dem Jahr darauf gewann er den Turner Price, Englands wichtigster Kunstpreis. Seine Werke befinden sich in Museen wie MoMA in New York, das Tate in England und das Guggenheim-Museum in Bilbao. In den Niederlanden hat das Museum De Pont in Tilburg Werke von ihm in seiner festen Kollektion. In den letzten 10 Jahren machte er weltweit Soloausstellungen. Kapoor ist auch für seine riesigen Skulpturen in öffentlichen Räumen bekannt, so wie das spiegelnde ‚Cloud Gate‘ in Chicago. In dem Palazzo Manfrin in Venedig hat er seit diesem Jahr ein eigenes Museum.

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